Bindungsangst – psychologische Ursachen und therapeutische Perspektiven

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Bindungsangst beschreibt die psychologisch bedingte Furcht vor Nähe, emotionaler Vertrautheit und langfristigen Beziehungen. Sie kann zu erheblichen Belastungen in Partnerschaften führen und verhindert oft, dass Betroffene stabile Bindungen eingehen oder aufrechterhalten können.
In der Psychologie wird Bindungsangst häufig im Zusammenhang mit unsicheren Bindungsstilen nach John Bowlby und Mary Ainsworth beschrieben. Sie spielt eine zentrale Rolle in der klinischen Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Paartherapie.
Wortbedeutung und Definition
Der Begriff „Bindungsangst“ setzt sich aus den Komponenten Bindung und Angst zusammen.
Unter Bindung versteht man eine emotionale Verbindung oder Verpflichtung gegenüber einer anderen Person (Duden Online).
Angst hingegen ist eine psychophysiologische Reaktion auf wahrgenommene Bedrohung oder Unsicherheit und dient grundsätzlich dem Selbstschutz (Spektrum Lexikon der Neurowissenschaft).
Bindungsangst bezeichnet somit die Furcht vor emotionaler Nähe, insbesondere in Liebesbeziehungen, und äußert sich in Vermeidungsverhalten, Rückzug oder Ambivalenz.
Wie entsteht Angst?
Angst entsteht häufig durch Lernprozesse.
In der klassischen Konditionierung (I. P. Pawlow, J. B. Watson) wird ein neutraler Reiz mit einem negativen Ereignis verknüpft, sodass der Reiz später selbst Angst auslöst.
Beispielsweise kann ein Kind, das Zurückweisung durch eine geliebte Bezugsperson erlebt, emotionale Nähe mit Schmerz verknüpfen – eine Grundlage für spätere Bindungsangst.
Auch instrumentelle Konditionierung spielt eine Rolle: Wenn Nähe oder Liebe wiederholt mit Verlust verbunden wird, lernt das Gehirn, Zuneigung als Risiko zu interpretieren.
Neuere neurobiologische Modelle sehen Angst nicht nur als erlernte Reaktion, sondern auch als Folge veränderter Emotionsregulation und Amygdala-Aktivität (LeDoux, 2015).
Die klassische Konditionierung wurde ursprünglich durch die Arbeiten von I. P. Pawlow und J. B. Watson beschrieben, die zeigten, wie Angstreaktionen erlernt werden können.
(Quelle: Pawlow, I. P.; Watson, J. B., 1920. „Conditioned Emotional Reactions.“ Journal of Experimental Psychology, 3(1): 1–14.)
Bindungsangst in der klinischen Psychologie
In der klinischen Psychologie wird Bindungsangst nicht als eigenständige Störung im ICD-10 oder DSM-5 geführt, steht jedoch in enger Verbindung mit vermeidenden oder ängstlich-ambivalenten Bindungsstilen (Bartholomew & Horowitz, 1991).
Diese Muster gelten als Risikofaktoren für Beziehungsabbrüche, depressive Symptome und emotionale Dysregulation.
Therapeutisch werden häufig Methoden aus der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) und der Emotionsfokussierten Therapie (EFT) eingesetzt, um maladaptive Bindungsmuster zu erkennen und zu verändern.
Bindungsangst und Emotionsregulation
Personen mit Bindungsangst zeigen häufig Schwierigkeiten in der Regulation von Nähe und Distanz.
Forschungen von Mikulincer & Shaver (2016) belegen, dass Menschen mit ängstlich-vermeidenden Bindungsstilen eine Hyperaktivierung (Überempfindlichkeit auf Zurückweisung) oder Deaktivierung (emotionaler Rückzug) des Bindungssystems aufweisen.
Diese Reaktionen führen zu Widersprüchen im Verhalten – Betroffene wünschen sich Nähe, empfinden sie aber zugleich als Bedrohung.
Therapieansätze zielen darauf ab, diese Muster bewusst zu machen und neue, sichere Strategien im Umgang mit Nähe zu fördern.
Forschungsperspektive
Trotz der hohen gesellschaftlichen Relevanz wird Bindungsangst in der empirischen Forschung bislang unterrepräsentiert.
Zukünftige Studien sollten neurobiologische Grundlagen, die Rolle früher Bindungserfahrungen und geschlechtsspezifische Unterschiede stärker berücksichtigen.
Solche Erkenntnisse könnten wesentlich zum Verständnis moderner Beziehungsmuster beitragen.
Ursachen für Bindungsangst
Die Ursachen liegen meist in negativen Beziehungserfahrungen – oft in frühen Lebensjahren.
Störungen der Eltern-Kind-Bindung, emotionale Vernachlässigung oder traumatische Trennungserfahrungen können die Entwicklung sicherer Bindungsmuster verhindern.
Fehlen Geborgenheit und Verlässlichkeit in der frühen Kindheit, kann das Vertrauen in stabile Beziehungen nachhaltig beeinträchtigt werden.
Auch spätere Erlebnisse – etwa schmerzhafte Trennungen, Verlust oder Verrat – können Bindungsangst reaktivieren oder verstärken.
Forschungen von Mikulincer und Shaver (2016) zeigen, dass Bindungsangst stark mit inneren Arbeitsmodellen und der Fähigkeit zur Emotionsregulation verknüpft ist. Zudem deuten aktuelle Studien auf genetische und neurobiologische Einflussfaktoren hin.
Der Psychologe Matthew Erdelyi betont zudem, dass verdrängte oder unbewusste traumatische Erinnerungen eine zentrale Rolle bei der Entstehung pathologischer Ängste spielen können.
(Quelle: Erdelyi, M. H. (2006). „The Unified Theory of Repression.“ Behavioral and Brain Sciences, 29(5), 499–551.)
Auswirkungen und Symptome
Menschen mit Bindungsangst empfinden häufig Nähe als einengend. Beziehungen lösen Ambivalenz aus: Das Bedürfnis nach Nähe steht im Widerspruch zur Angst vor Abhängigkeit.
Typische Merkmale sind:
- Rückzug, wenn Beziehungen intensiver werden
- Wechsel zwischen Nähe und Distanz
- Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen
- Angst vor Kontrollverlust oder Verlust der Selbstbestimmung
- Körperliche Reaktionen wie Herzrasen, Anspannung oder Panikgefühle
Viele Betroffene sind sich ihrer Angst nicht bewusst. Sie rationalisieren Rückzüge („Ich bin gerade nicht bereit für eine Beziehung“) oder suchen unbewusst Beziehungen, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.
Therapieansätze
Der erste Schritt zur Behandlung besteht in der Einsicht, dass Bindungsangst existiert.
Eine psychotherapeutische Begleitung – etwa durch Verhaltenstherapie oder emotionsfokussierte Paartherapie (EFT nach Johnson, 2008) – kann helfen, die Ursachen aufzuarbeiten und neue Bindungserfahrungen zu ermöglichen.
Therapieziele sind:
- Bewusstmachen unbewusster Vermeidungsmuster
- Verarbeitung früher Beziehungserfahrungen
- Förderung von Selbstwert und emotionaler Regulation
Auch unterstützende Gespräche in stabilen Partnerschaften können heilsam sein, wenn Verständnis und Akzeptanz vorhanden sind.
Praktische Hinweise für Angehörige und Partner:innen
Wer bei seinem Partner Anzeichen von Bindungsangst bemerkt, sollte versuchen, die Mechanismen der Angst zu verstehen.
Rückzug oder Distanz bedeuten nicht zwangsläufig mangelnde Zuneigung.
Hilfreiche Strategien sind:
- Geduld und emotionale Sicherheit bieten
- Keine Überforderung durch Druck oder Forderungen
- Offene, wertfreie Kommunikation
- Gemeinsame positive Beziehungserfahrungen schaffen
Die Psychotherapeutin Stefanie Stahl beschreibt dieses Dilemma treffend im Interview mit Spiegel Online:
„Eine Beziehung mit einem Bindungsphobiker hat nur eine Chance, wenn man aufhört, an ihr festzuhalten.“
(Spiegel Online)
Diese Hinweise dienen der allgemeinen psychologischen Aufklärung und ersetzen keine ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung.
📚 Quellen & weiterführende Literatur
Fachliteratur:
- Bowlby, J. (1969). Attachment and Loss. Vol. 1: Attachment. Basic Books.
- Ainsworth, M. D. S. et al. (1978). Patterns of Attachment. Lawrence Erlbaum.
- Bartholomew, K., & Horowitz, L. M. (1991). Attachment styles among young adults. Journal of Personality and Social Psychology, 61(2), 226–244.
- Mikulincer, M., & Shaver, P. R. (2016). Attachment in Adulthood. Guilford Press.
- Erdelyi, M. H. (2006). The Unified Theory of Repression. Behavioral and Brain Sciences, 29(5), 499–551.
- LeDoux, J. (2015). Anxious: Using the Brain to Understand and Treat Fear and Anxiety. Viking Press.
- Johnson, S. M. (2008). Hold Me Tight. Little, Brown & Company.
- Bartz, J. A., Zaki, J., Bolger, N., & Ochsner, K. N. (2011). Social effects of oxytocin in humans: context and person matter. Trends in Cognitive Sciences, 15(7), 301–309.
Online-Quellen:








